Eine exemplarische Abhandlung zum Thema Lebenserwartung

Und was sind die Zusammenhänge mit toxischer Männlichkeit, Entwicklungstheorien, Statistik, binärem Geschlecht und Antifeminismus?

In diesem Text verlasse ich mal etwas die kulturwissenschaftliche Perspektive und wende mich einer teilweise ökonomisch und statistisch geprägten Analyse zu. (Keine Angst, der Text lohnt sich auch, wenn das nicht so Euer Ding ist.) Wie hier oder hier zu lesen ist, sinkt die Lebenserwartung in den USA. Warum ist das relevant im Kontext dieses Blogs? 1. Lebenserwartung kann als global wichtiger quantitativer Indikator für die „Entwicklung“ eines Landes betrachtet werden. 2. Die in den Medien genannten Gründe für den Rückgang der Lebenserwartung sind steigende Suizidraten und Drogenmissbrauch, also Themen, die im Kontext von „toxischer Männlichkeit“ besprochen werden. Dies könnte einen also 3. zu der These veranlassen, dass „toxische Männlichkeit“ zu „Unterentwicklung“ führt. Exemplarisch lassen sich an dem Thema noch einige andere interessante Punkte verdeutlichen.

Toxische Männlichkeit als Zeichen von „Unterentwicklung“?

Der Rückgang der Lebenserwartung von Männern (die von Frauen stagniert) in den USA könnte also unmittelbar zu der These führen, dass toxische Männlichkeit einen relevanten Einfluss auf die Frage hat, wie „entwickelt“ ein Land ist. Oder etwas schärfer formuliert: Toxische Männlichkeit führt zu „Unterentwicklung“. Dass in den USA erstmals seit 1918 die Lebenserwartung wieder sinkt, ist tatsächlich eine alarmierende Nachricht. Vor 100 Jahren, also 1918 war dies letztmalig aufgrund der spanischen Grippe der Fall.

Aber ich gehe nochmal einige Schritte zurück, denn aus der gerade entworfenen These lassen sich tatsächlich weiter interessante Schlüsse ziehen: 4. Bauen wir mit dem Konzept von „entwickelten“ oder „modernen“ Ländern einen verkürzten Gegensatz zu „unterentwickelten“ oder „primitiven“ Ländern auf, der sehr wirkmächtig für unsere Betrachtung der Welt ist. 5. Diese ausgedachte Zweiteilung der Welt in „entwickelt“ und „unterentwickelt“ ist gar nicht so unterschiedlich zu unsere Betrachtung des binären Geschlechts, also „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“. 6. Wird die kürzere Lebenserwartung von Männern gegenüber Frauen als Beweis für eine angebliche Benachteiligung von Männern gegenüber Frauen herangeführt, eine These, der ich hier klar entgegen treten möchte. Und 7. zeigt genau diese Betrachtung, dass ein derart „reduktionistisches und rein szientistisches Verständnis von Wissenschaft, das die Methodologien und Epistemologien von Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften insgesamt in Frage stellt“**, wie es von „anti-genderistischen“ Maskulinsten vertreten wird, nicht unbedingt hilft um die Welt zu verstehen.

Was ist eigentlich „Entwicklung“?

Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Armatya Sen ist sicherlich ein Ökonom, der diesen Preis tatsächlich verdient hat. Mit seinen Analysen hat er beispielsweise gezeigt, dass Unterernährung eigentlich nie mit Nahrungsmittelknappheit zusammenhängt, sondern mit der Verteilung von Nahrungsmitteln beziehungsweise dem Zugang einzelner zu diesen. Insbesondere hat er sich auch mit dem Konzept „Entwicklung“ auseinandergesetzt und eine Verbindung zu „Freiheiten“ (Capabilities) hergestellt (siehe das Buch von Armatya Sen: „Ökonomie für den Menschen“). Dabei hat er politischen Freiheiten, wie Beispielsweise Meinungs- und Pressefreiheit, einen wichtigen Stellenwert eingeräumt. Das hat ihm sicherlich in der liberalen Ökonomie eine gewisse Popularität eingebracht. Andererseits hat er sich aber auch mit den materiellen Grundlagen für die Ausübung dieser Freiheiten auseinandergesetzt. So in etwa: Was bringt Dir Meinungs- und Pressefreiheit, wenn Du Dir weder eine Zeitung kaufen kannst, noch genug zu Essen für Dich und Deine Kinder hast? Nicht sehr viel.

Meistens wird zur Beurteilung der „Entwicklung“ beziehungsweise „Unterentwicklung“ von Ländern das Bruttoinlandsprodukt herangezogen. Ein zentrales Problem dabei ist jedoch, dass sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP), welches auf den Preisen aller verkauften Waren und Dienstleistungen basiert, zwischen zwei Ländern eigentlich nicht vergleichen lässt. Ein Vergleich macht höchstens für ein Land und über einen Zeitraum hinweg Sinn, also z.B. steigt das Bruttoinlandsprodukt in einem Land im Vergleich zum Vorjahr. Daher werden komplizierte Warenkörbe zusammengestellt, um ein sogenanntes Kaufkraftbereinigtes BIP zu berechnen, um überhaupt irgendwie einen Vergleich zwischen Ländern herstellen zu können. Die Zusammenstellung dieser Warenkörbe ist aber nicht unbedingt sinnvoll und wird zu selten neu berechnet. Zumal werden die Reichen, die viele Güter und Dienstleistungen nachfragen, übermäßig stark im BIP abgebildet. Amartya Sen drückt es etwas vorsichtiger aus:

„Herkömmliche Kriterien wie Bruttoinlandsprodukt und Zahlungsbilanz sagen oft zu wenig über die tatsächliche Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft aus. Als wichtige Ergänzung der ökonomischen Analyse erweisen sich Sterblichkeitsdaten.“

Amartya Sen
Eine nur auf Zahlen basierende Wissenschaft gibt es nicht!

Selbstverständlich hat auch die Lebenserwartung ihre Tücken. Beispielsweise lassen sich Auswirkungen von bestimmten Politikmaßnahmen (z.B. einem Rauchverbot in öffentlichen Räumen) erst Jahre (Jahrzehnte?) später feststellen. Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts aufgrund weniger verkaufter Zigaretten, ließe sich da viel schneller messen, sagt aber natürlich auch nichts über die Sinnhaftigkeit von Rauchverboten aus. Ein Beispiel, welches deutlich machen sollte, dass eine reine Betrachtung von Zahlen uns nicht unbedingt weiter bringt. Mit anderen Worten: Zahlen müssen in einem breiteren Kontext interpretiert werden. Eine nur auf Zahlen basierende Wissenschaft gibt es nicht. Soviel also zum Unsinn quantitativer Messung von „Entwicklung“.

„Entwicklung“ setzte ich übrigens die ganze Zeit in Anführungszeichen, da das Konzept an und für sich ziemlich unsinnig ist. Zu sehr sind wir daran gewohnt bestimmte Länder als „entwickelt“ und „modern“ zu betrachten und andere als „unterentwickelt“ und „primitiv“ abzustempeln. Das ist eine krasse Vereinfachung, die uns in vielen Situationen nicht weiter bringt. Sehr ähnlich wie mit Geschlecht stellen wir ein Dualität her, die bei genauerer Betrachtung keinen Sinn ergibt. „Entwickelt“ vs. „Unterentwickelt“, „Männlich“ vs. „Weiblich“, „Blau“ vs. „Rosa“, „Männerberufe“ vs. „Frauenberufe“, „Stark“ vs. „Schwach“, „Rational“ vs. „Emotional“ usw. Dies Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Mit Begriffen, die ein „oben“ und „unten“ konstruieren kritisch umgehen!

Bei den USA „wissen“ wir nun alle, dass es sich um ein „hochentwickeltes“ Land handelt. Wir „wissen“ wiederum, dass „irgendwo in Afrika“ die Situation deutlich schlechter aussieht und („primitive“?) Menschen dort in „Unterentwicklung“ leben. So drastisch würden es wahrscheinlich wenige formulieren (meistens wird das Wort „modern“ genutzt, wenn ich dann aber die Aussage mal umdrehe und das Gegenstück „primitiv“ verwende, merken die Menschen schnell, was für einen Schwachsinn sie da gerade von sich geben). Derartige Betrachtungsweisen bringen uns nicht weiter. So sind die USA beispielsweise ziemlich „unterentwickelt“, was die Rechte von Gewerkschaften oder die durch toxische Männlichkeit geprägte Debatte um die Waffengesetzgebung angeht. In Deutschland ist dies der Fall, wenn wir uns die Integration von Be_Hinderten oder Chancengleichheit in Schulen anschauen und die durch toxische Männlichkeit geprägte Debatte um ein Tempolimit auf Autobahnen.

Der Begriff „Diskriminierung“ macht nur in einem historischen, mit gesellschaftlicher Macht und dem System verbundenen Kontext Sinn

Interessant im Zusammenhang zu Lebenserwartung ist sicherlich auch die Tatsache, dass Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer. Die dafür genannten Gründe sind meistens ungesunder Lebensstil von Männern (Rauchen, Saufen, anderer Drogenkonsum), äußere Gewalteinwirkung (Krieg, Gewaltverbrechen (meist verursacht durch andere Männer) und Verkehrsunfälle) und auch Suizid. Jack Urwins Buch „Boys Don’t Cry: Identität, Gefühl und Männlichkeit“, dass ich Einsteiger*innen zum Thema kritische Männlichkeit durchaus empfehlen kann, bietet einige interessante Perspektiven zu Militär und Suizid.

Maskulinisten und Männerrechtler führen diesen Unterschied auf eine angebliche Diskriminierung von Männern zurück. Zum Beispiel durch „Wehrpflicht und mehr berufliche Todesfälle“. Das Frauen aber aus Gründen, die im Patriarchat verwurzelt sind, an die häusliche Sphäre gebunden und insbesonder historisch im Militär oder (bestimmten) Berufen wenig vertreten sind, sollte einleuchten. (Einen interessanten englischsprachigen Artikel zur Entstehung des Patriarchats findet Ihr hier.)

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass (systemische) Diskriminierung immer nur aus einer (meist) historisch herzuleitenden, mächtigeren Position heraus funktionieren kann. Dadurch dass Männer mehr Macht in unserer Gesellschaft haben, können sie Frauen diskriminieren. Das bedeutet natürlich nicht, dass es allen Männern zwangsläufig besser gehen muss als allen Frauen. Aber ein Umdrehen des Begriffs Diskriminierung führt diesen in die Absurdität. Männer können wegen ihrer Männlichkeit „schlecht behandelt, beleidigt oder auch mal situativ benachteiligt werden. Männer können aber nicht wegen ihrer Männlichkeit systemisch diskriminiert werden“ (wie auch hier argumentiert).

Und zurück zu „toxischer Männlichkeit“ und „Entwicklung“

Selbstverständlich bedarf es auch einen kritischen Umgang mit dem Begriff „toxische Männlichkeit“ (gegenüber einer „kritischen Männlichkeit“). Wenn wir aber den auf „Freiheiten“ (Capabilities) basierenden Entwicklungsansatz von Armatya Sen zurück kommen und wie Laurie Penny in ihrem Tweet „toxische Männlichkeit“ als „Gefängnis für Männer“ und alle anderen begreifen, können wir die ganzen Zahlen auch getrost weglassen, um zu verstehen, dass „toxische Männlichkeit“ unmittelbar ein Aspekt von „Unterentwicklung“ in den USA und in unserer Gesellschaft ist. Wahrscheinlich müssen wir die Themen aber etwas differenzierter betrachten!

* Bild: WikimediaCommons, Author: Holger.Ellgaard, CC BY-SA 3.0
** Sehr einfacher formuliert bedeutet dies, dass Erkenntnisgewinn, anders als von bestimmten Antifeministen und quantitativen Wissenschaftler*innen behauptet, eben nicht nur auf einer angeblich objektiven und auf Zahlen basierenden Wissenschaft beruhen kann. Beispielsweise bedarf es einer (subjektiven) Fragestellung, einer wissenschaftsphilosophischen Herleitung quantitativer (also auf Zahlen basierter) Methoden und einer Interpretation der Ergebnisse, also einer Leistung die über ein reines Zahlenverständnis hinaus geht. Und auf den Punkt gebracht: Die Unterteilung in „harte“ (auf Zahlen basierter) Wissenschaft und sogenannte „Laberfächer“ ergibt keinen Sinn, da sich eine auf Zahlen basierende Wissenschaft nicht ohne philosophisches „rumgelaber“ hätte entwickeln können.


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Dies ist ein pro-feministischer Blog, der sich mit Themen der Männlichkeit und darüber hinaus auseinandersetzt. Wenn Du zum ersten mal hier bist, lohnen sich vielleicht diese zwei Texte: Was ist kritische Männlichkeit? und Herangehensweise an kritische Männlichkeit.

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